Polyneuropathie ist eine oft lang anhaltende Nach- und Nebenwirkung von Krebstherapien. Sie erhält deshalb auch während der onkologischen Reha ihren Platz. Wir haben uns mit Birte Schlinkmeier ausgetauscht. Sie arbeitet in einer der renommiertesten onkologischen Reha-Kliniken Deutschlands, in Bad Oexen. In unserem Austausch zur Reha nach einer Krebserkrankung ging es nicht nur um Polyneuropathie. Sie hat uns interessante Einblicke gewährt und erzählt, was Patient:innen in der onkologischen Reha erwartet und wie sie am meisten Nutzen daraus ziehen.
Onkologische Reha - Was umfasst das?
Wenn du Lust hast, liebe Birte, fass doch einfach in ein paar wenigen Sätzen mal zusammen, was Schwerpunkte der onkologischen Reha sind und was du als Breast beziehungsweise Pelvic Care Nurse in dem Rahmen machst.
Also erstmal grundsätzlich, wir haben ein bisschen über 360 Betten hier. Bad Oexen gehört zu Bad Oeynhausen. Es liegt sehr schön und naturverbunden, ist überhaupt wie ich finde, die schönste Klinik (lacht). Und ja, ich arbeite schon über 17 Jahre hier und darf also Frauen intensiv betreuen und beraten zu den ganzen Neben- und Nachwirkungen der Erkrankung Brustkrebs. Auf das Vulvakarzinom habe ich mich in meiner Beratung sehr spezialisiert, aber natürlich andere Erkrankung genauso.
Eine onkologische Reha: Was Reha insgesamt bedeutet, glaube ich, brauche ich nicht erklären: Das Wieder-Zurückfinden in den Alltag, ins Berufsleben. In der Onkologie gibt es natürlich immer ein paar Punkte, die sind halt anders, weil die Therapieformen verschiedenste Nebenwirkungen mit sich bringen und, ganz ehrlich, die Diagnose Krebs alleine schon so viel anderes mit sich bringt als zum Beispiel die Ankündigung "Sie brauchen eine neue Hüfte."
Das möchte ich nicht runterspielen, keine Frage. Aber ich glaube, dass jeder weiß, was hier der Unterschied ist. Und ja, wir haben uns eben sehr spezialisiert. Bei uns ziehen alle onkologischen Krebserkrankungen weitestgehend ein, außer Lunge und Hirntumore, weil wir dafür eben keine Spezialisierung haben.
Brustkrebs macht mit etwa fast einem Drittel bei uns in der Klinik den höchsten Patientinnenanteil aus. Aber wir haben auch Patienten. Die möchte ich immer nicht unerwähnt lassen. Auch Männer können an Brustkrebs erkranken.
Breast und pelvic care bei der onkologischen Reha
Okay und du bist in dem Kontext breast beziehungsweise pelvic care nurse. Was macht jemand mit dieser Spezialisierung?
Ja, wenn ich jetzt im Akuthaus arbeiten würde, in einem Brustzentrum, hätte ich einen komplett anderen Aufgabenbereich als ich ihn jetzt habe. Und ich glaube auch so jemanden wie mich müsstest du sehr stark suchen in Deutschland - vielleicht so wie die Stecknadel im Heuhaufen. Ich habe mich über 17 Jahre auf die Neben- und Nachwirkungen spezialisiert, ich habe ganz viel mit den Patient:innen und durch das Tun hier gelernt. Eine Diagnose Krebs ist eben nicht mit der Therapie vorbei, das wird oft vermutet. So ist es aber nicht. Ganz viele bleibende Nebenwirkungen kommen dann erst oder schleichen sich ein oder bleiben eben teilweise ein Leben lang.

Dazu gehört auch zum Beispiel die Polyneuropathie, über die wir auch gleich sprechen werden. Und ja, ich habe mich spezialisiert, ich möchte nicht alles im Einzelnen aufführen, aber ich habe so ein paar Schwerpunkte.
- viel Haut- und Schleimhautpflege
- Sexualität, Vaginaltrockenheit
- BH und Epithesenversorgung
- das ganze große Thema Fatigue zieht hier ein.
Onkologische Reha mit Herz, Kompetenz und Authentizität
Und du machst das alles mit ganz viel Kompetenz und ganz viel Herz. Das kann man sehen, allein an der Masse an Vortragsinhalten, die du auf deiner Webseite kostenfrei anbietest, aber auch auf deinem 👇Instagram Kanal, der so eine wunderbare Rundumschau zu zentralen Themen der onkologischen Reha und einfach ganz viel Dasein mit Herz ist. Das ist so wunderbar und ich möchte deine Arbeit gerne noch mal loben. Ich weiß, ich mache das sehr oft, aber tolle Arbeit verdient immer wieder Wertschätzung.
Du, da freue ich mich auch immer wieder drüber, wobei ich aber sagen muss, was Insta angeht, werde ich nie eine Expertin und soll ich dir was sagen? Ich will sie gar nicht mehr werden, weil ich mittlerweile immer mehr von meinen Patient:innen höre: Birte, das machst du so toll. Das ist so authentisch, man weiß gleich: das bist du. Da steckt niemand dahinter - und so ist es. Ich wechsle die Schriftform, ich wechsle die Bilder, ich gestalte, wie es mir gerade heute so ist und ich liebe es einfach, diese Möglichkeit zu haben und dass das auch so gesehen wird.
Genau, das ist noch mein dritter Punkt gewesen: Du bist Kompetenz, du bist Herz, aber natürlich auch Authentizität.
"Warum hat mir das keiner gesagt?" - Herausforderungen und Erfahrungen mit Patient:innen
Ich würde gern nochmal auf etwas zurückkommen. Du sagtest, du bist jetzt schon 17 Jahre dabei. Wenn du an deine Anfangszeit denkst: Gab es irgendwas, was dich ganz besonders überrascht, bewegt hat und vielleicht, wenn du so einen Sprung zu heute machst, was sich in deiner Arbeit verändert hat?
Also vielleicht möchte ich erst mal sagen: Die Zusatzausbildung zur Breast Care nurse, also zur Pflegefachkraft für Brusterkrankungen, hat mir wenig von dem vermittelt, was ich hier heute brauche und was sich die Frauen so intensiv von mir wünschen. Hintergrundwissen, also alles zum Thema „Was ist Brustkrebs“, „warum, weshalb, wie therapiert man…“, „Chemo, Operationen, Bestrahlung“ waren natürlich alles Inhalte. Das war auch eine gute Fortbildung.
Dann musste ich aber anfangen und musste mich erstmal fragen: Was wollen die Frauen eigentlich von mir? Die sind doch alle operiert, die sind therapiert, die haben die Chemo gehabt, die sind bestrahlt, die haben da und da ein bisschen was an Nebenwirkungen. Dass das so mal kommt, wie es heute ist, das war mir damals nicht bewusst. Ich hab immer wieder aufgebaut, immer wieder angeflickt, mich immer wieder bemüht, Input zu bekommen. Um letztlich ein Ziel zu erreichen: Ich möchte auf jede Frage eine Antwort haben.
Ich hab hier das große Glück, dass ich Produkte nennen darf, weil es eine Privatklinik ist. Klinik Bad Oexen ist familiengeführt. Ich empfehle aber nur, was ich auch tatsächlich lange getestet und gemeinsam mit meinen Patient:innen für gut befunden habe. Und ich werde immer bestärkt: Birte mach deine Arbeit weiter, du machst sie scheinbar sehr gut. Ich habe Vorträge erstellt, um möglichst viele Patient:innen auf einmal zu erreichen.
Was waren also meine Erfahrungen? Dass ich anfangs gar nicht wusste, wie viele Fragen und auch Leid diese Personen mit sich bringen. Ich war so naiv und habe gedacht, dass in einem Brustzentrum heute so gearbeitet wird, dass die Betroffenen hier her kommen und in der Reha eigentlich nur Sport machen oder was für ihre Psyche tun wollen. Dass so ein geballtes und umfängliches Wissen von mir verlangt wird, nein, das habe ich nicht absehen können.

Und ich höre immer wieder einen Satz: Warum hat mir das niemand eher gesagt?
Ich möchte damit niemanden und kein Brustzentrum, keine Kolleg:innen an den Pranger stellen. Die Ursachen sind ja ganz verschieden, aber: Man hätte viele Möglichkeiten heute besser aufzuklären, kompakter, in besserem Austausch – wie auch immer. Es fehlt an Informationen und was machen die Frauen und Männer? Sie gehen auf die Suche. Über Insta, über Facebook, über KI-Lösungen, Suchmaschinen usw. Und da sind die Infos nicht immer die besten. Darum freue ich mich diese Möglichkeit hier zu haben, zu informieren.
Natürlich hatte ich solche einschneidenden Erlebnisse/Erkenntnisse auch mit Frauen. Da möchte ich vielleicht eines mal erzählen. Meine Anna – sie war eine meiner ersten Patientinnen, die sich eine umfangreiche Beratung von mir gewünscht hatte. Sie ist dreimal operiert worden – rund um ihren Körper, um ihr eine neue Brust zu schaffen. Also eine Rekonstruktion. Sie war offensichtlich an ein Zentrum gelangt, das große Lust am Operieren hatte. Man hat am Rücken angefangen, das ist misslungen. Dann hat man es zweimal über Implantate versuchte. Misslungen. Und zum Schluss noch der Versuch mit dem Bauch. Und so saß sie vor mir. Das war ein Erlebnis, das ich nie vergesse. Denn das war der Startschuss, dass ich mich gefragt habe: Was ist eigentlich los da draußen, wie kann man das einem Menschen antun?
Ich hab hier meinen Stuhl gefunden und ich hab die Möglichkeit ganz viel zu beraten, aufzuholen, abzuschließen mit bestimmten Themen und den Frauen auch ein bisschen Sicherheit (zurück) zu geben.
Wenn du es zusammenfassen müsstest, wie sind denn die Rückmeldungen deiner Patient:innen?
Durchweg positiv. Dankbarkeit, ein wirklich unglaublich tolles Feedback. Es ist viel pychologische Arbeit. Es werden hier nicht nur stumpf Produkte ausgegeben, sondern es wird viel aufgeholt. Frauen sagen z.B.: Ich bin in einem Sanitätshaus mit Brust- und Epithesenversorgung gut versorgt. Und die sagen, es geht nicht besser. Dann komme ich und sage: Moment, da wollen wir doch mal schauen. Und dann liegen da oft Welten dazwischen. Es hängt immer davon ab, wie gut Menschen informiert und aufgeklärt sind. Wenn ich für und mit den Patient:innen ganz viel davon aufhole, ist immer viel Dankbarkeit da.
Aufklärung bei onkologischen Patient:innen
Würdest du also sagen, dass die Aufklärungsarbeit zum Großteil eher defizitär ist in der Onkologie? Klar, ist die Qualität sicher abhängig von den Kompetenz- und Spezialisierungsprofilen der behandelnden Ärzt:innen und dem Pflegepersonal, gerade auch was Nebenwirkungen betrifft. Wahrscheinlich ist es auch in gewissem Maße systeminhärent, dass in der Onkologie garnicht alle alles wissen und behandeln und sich darin spezialisieren können.
Genau, und dann kommt ja auch noch erschwerend hinzu, zumindest wird mir das immer so gespiegelt: Viele dürfen gar keine direkten Empfehlungen geben. Ich will auch gar nicht sagen, dass alle extrem lückenhaft arbeiten. Ich empfinde es wohl auch nur als sehr geballt, weil mich eben auch vieles konzentriert über Social Media erreicht. Aber so eine gemeinsame Basis wäre schon wünschenswert.
Nur mal als Beispiel: Ein Betroffener, der mir auch sehr nahesteht, kam im Vorfeld der extrem aggressiven Chemo, die er erhalten sollte, mit einem Zettel an. Darauf standen Dinge wie: Vermeiden Sie die Sonne und cremen Sie sich ein. Ich so: "Ohhh, doch so viel Info" (lacht). Zu Hause wartete ein prall gefüllter Schrank mit Produkten gegen alle möglichen Nebenwirkungen auf ihn. OnLife gegen die sehr wahrscheinlich auftretende Polyneuropathie war natürlich auch dabei (lacht).
Wir haben diese Erfahrung auch ganz oft gemacht. Mit vielen Betroffenen, mit denen wir gesprochen haben, war dieses Aufklärungsbedürfnis sehr groß, um einfach Sicherheit zu gewinnen. Viele fragen nach, wollen über Therapieverfahren, Auswirkungen detailliert informiert sein, Vorkehrungen treffen können usw. Das war für uns im letzten Jahr der Anstoß, den 👉Onlinekurs zu Polyneuropathie ins Leben zu rufen, um eine Quelle zu haben, wo Informationen aktuell gehalten werden und einen guten Überblick zu gewinnen.
Ja, der ist super. Was Medikamente und Produkte angeht, verweise ich auch gern immer auf die Apotheken, wo man sich zusätzlich beraten lassen kann. Was besonders wichtig ist, ist eben auch, präventiv, möglichst zeitnah zu beginnen, Schutz aufzubauen und eben auch wirksame Produkte sich vorab zu besorgen.

Mythen und Fehlinformation zu Polyneuropathie nach der Krebstherapie
Richtig, ganz wichtiger Input. Wir haben über Aufklärungsdefizit gesprochen, vielleicht sogar falsche Informationen. Stößt du denn auch immer mal auf Mythen oder sogar Fehlinformationen, die du korrigieren oder „gerade rücken“ musst?
Ich find ja, gerade das Beispiel Polyneuropathie ist in der onkologischen Reha da ganz weit vorn. Es scheint mir ohnehin eine Nebenwirkung zu sein, die noch nicht die richtige Anerkennung erfährt. Anerkennung im klassischen Sinne haben klar: Haarausfall, Haut- und Schleimhautprobleme, Gewichtszunahme. Das, was vielleicht auch einfach sichtbar ist. Bei Übelkeit haben wir mittlerweile schon einen guten Medikamentenboost, den man geben kann. Polyneuropathie? "Ja, ein bisschen kribbeln. Das geht schon von selbst wieder weg." Nach dem Motto: "Wird ja nicht so schlimm sein." Das höre ich häufiger von meinem Patient:innen. Die haben keinerlei Empfehlungen bekommen. Nicht mal die Frage: Hat sich denn etwas bei Ihnen eingestellt, entwickelt, spüren Sie was? Man kann ja eben auch präventiv etwas vorbeugen.
Dann natürlich auch so Aussagen wie: "Also wenn die Polyneuropathie sich erstmal einschleicht, gibt es Medikamente. Frau Müller, bleiben Sie mal ganz entspannt. Wir geben dann z.B. Psychopharmaka." Die haben dann natürlich wieder andere Nebenwirkungen. Das finde ich so schade. Denn ich bin davon überzeugt: Wenn man vorbeugend aufklärt, mit den Betroffenen arbeitet, dann werden die Nebenwirkungen auch nicht so schlimm. OnLife ist für mich da ganz weit vorn. Wenn man rechtzeitig damit anfängt, ist nach meinem Dafürhalten das Ausmaß der Nebenwirkungen nicht so schlimm. Später kann man es auch immer wieder einsetzen, aber zeitnah ist natürlich sinnig.
Und, stell dir mal vor, du bist von Beruf Näherin oder strickst und die Nebenwirkungen beeinträchtigen dich so stark, dass du nicht mal mehr ‘nen Geldschein aus deinem Portmonee bekommst. Menschen, die kaum laufen können, auf den stark geschädigten Füßen. Also Taubheit – das weiß doch jeder, wie eklig sich das anfühlt. Wir sind hier in der onkologischen Reha natürlich auch spezialisiert auf Polyneuropathie. Wir arbeiten viel mit Strom: TENS, Vierzellenbad. Das haben kaum noch Kliniken, weil es sehr teuer ist. Unsere Ergotherapie arbeitet mit allen, was die Nerven stimuliert, geben viele Tipps, was dann auch zu Hause noch nützlich ist.
Ich geb‘ ja auch gern Tipps weiter, die ich mir im Austausch mit Betroffenen mit der Zeit erarbeitet habe. Z.B. Laufen auf Schlappen mit Noppen, die Kunststoffmatte, wo man Hände und Füße drauf reiben kann, dann natürlich der Igelball, Akkupressurball und -ringe. Elektrische Zahnbürste wurde mir auch mal genannt. Ich könnte noch viel mehr nennen, da gibt es auch viele Möglichkeiten. Man muss die Patient:innen individuell beraten.
Und parallel eben auch die Ernährung: OnLife zählt für mich als Lebensmittel, als eine Art Nahrungsergänzungsmittel und eben die entsprechenden Inhaltsstoffe. Genauso wie Trinkmenge, Sport, Bewegung, etwas für sich tun. Dann aber auch Hoffnung nicht verlieren, zuversichtlich bleiben. Aber auch da ist der Grat schmal: Zuviel Hoffnung machen, ist ja auch kontraproduktiv, je nach Therapieform.
Wunsch an Ärzt:innen und Fachpersonal
Ja, das hatten wir ja auch schon mal drüber gesprochen. Die Ausprägung und die Heilungschancen einer Polyneuropathie sind von so vielen Faktoren abhängig. Deswegen sagen wir auch immer: Ein ganzheitlicher Ansatz muss eben individuell zugeschnitten sein und viele Komponenten beinhalten: Bewegung, Ernährung, Medikation und es muss auch für die Person passen.
Wichtig wäre mir nur, wenn die Betroffenen zu den behandelnden Ärzt:innen gehen und sagen, sie haben Symptome, dann sollte man doch einen Ratschlag haben und das eben nicht übergehen. Denn das sind extrem schlimme Nebenwirkungen für die Betroffenen, die so sehr einschränken können im Alltagsleben. Da würde ich den Fokus viel mehr darauf legen, weil bestimmte Therapieformen es eben verstärkt hervorrufen. Das wissen wir ja.

Wo du es gerade ansprichst: Hättest du einen Wunsch an Ärzt:innen, Fachpersonal, was das Thema Polyneuropathie angeht?
Man kann vieles empfehlen, nicht nur Medikamente. Letztendlich, ich finde eure Homepage – und das sage ich jetzt nicht, um zu bauchpinseln – die ist so gut gemacht und die führt so gut durch. Die empfehle ich auch immer. Oder aber sich einfach mal die Mühe machen, ein kleines Schriftstück zu entwerfen, was man den Betroffenen mit an die Hand gibt. Ich habe das für so viele Themen gemacht, da können Patient:innen nachlesen, wenn sie es brauchen. Letztendlich: Chemo-brain, was sie einmal gesagt bekommen, merken sie sich nicht.
Oder was man eben noch machen kann. Ich find, gerade bei PNP kann man so schön zusammenfassen. Es ist aber auch wichtig, um klarzumachen: Sie sind jetzt dran, sie müssen mitmachen. Aber eben nicht sagen: "Das wird schon wieder."
Da bin ich ganz mit dir. Das sind auch die Rückmeldungen, die wir bekommen. Unsere Facebook Gruppe mit knapp 6000 Mitgliedern, das ist für viele ein großer Anker. Auch dort ist die Aussage durchweg: Ich fühle mich allein gelassen, ich fühle mich nicht ernst genommen.
Ja, allein im Berufsleben. Unsere Hände benötigen wir den ganzen Tag. Das Feingefühl zu verlieren, um etwas anzufassen, sei es nur ein Kugelschreiber, die Geldmünzen. Ganz ehrlich – schwierig. Da muss viel mehr getan werden. Aber nein, man wartet oft einfach ab: Vielleicht sind die Symptome gar nicht so schlimm?
Ich finde, man sollte viel schneller in die Prävention gehen: "Besorgen Sie sich das Präparat, machen Sie die Übung XY, massieren Sie, reiben Sie vorm Insbettgehen ein…" Da viel mehr Mitarbeiten.
Der persönliche Umgang mit Schicksalen
Super, Birte, ich hätte noch eine ganz persönliche Frage, also persönliches Interesse. Du bist 17 Jahre dabei jetzt, nach wie vor mit so viel Herz und Motivation. Ganz ehrlich: Wie steckst du das denn weg, was dir jeden Tag an Schicksalen begegnet?
Schöne Frage. Das trauen sich gar nicht viele. Ich find’s aber eigentlich immer ganz nett, wenn man mich das fragt.
Vielleicht ist „wegstecken“ auch der falsche Ausdruck?
Nein, nein, ich weiß ja, was du meinst. Das ist wie ein Filter – die Löcher sind mit den Jahren größer geworden. Ich glaube, dass das eine normale Funktion ist, die eingesetzt hat. Wenn ich um 17 Uhr Feierabend habe, dann setz ich mich ins Auto und denke über mein weiteres Tun am Tag nach. Dann ist Oexen raus. Die Momente, die ich hier aber erlebe, wenn einige dann in die Palliativsituation gehen, dann wein ich auch mal mit und bin tieftraurig. Das geht mir nah. Aber dann ist es auch wieder weg. Und dieses ganze „Ich tue etwas Gutes“ und bekomme viel Dankbarkeit dafür, überdeckt das andere. Die Patient:innen nehmen mich in den Arm und sagen „Danke, Birte, danke“ und dann ist das andere weg.
Und man muss auch ehrlicherweise sagen, es ist Routine. Aber als ich in Oexen anfing, das weiß ich noch, da habe ich jede Akte angeschaut und mitgefühlt beim Lesen: „Oh nein, sie ist ja erst 23, oh mein Gott“. Da hab ich den Menschen auch so angesehen (mitleidiger und schockierter Blick), so „Oh Gott, oh Gott“. Heute mach ich das nicht mehr. Ich frage: „Was ist Ihre Diagnose“. Vielleicht ist das auch ein wenig Selbstschutz. Das hat sich so ergeben.
Das muss es aber auch, denke ich. Macht das nicht auch eine gewisse Professionalität aus? Es heißt ja nicht, dass es dir an Empathie mangelt. Würdest du dich aber allem ungefiltert hingeben, dann könntest du deinen Job ja nicht mehr gut machen. Wenn man den Anspruch hat, gute Arbeit zu leisten, dann wächst man sicher auch hinein in die Anforderungen.
Mein Ziel ist einfach: Ich will helfen. Ich will Ratschläge geben, zuhören. Ich will helfen. Ich bin so dankbar, dass ich das darf. Und das spüren sie, glaube ich, auch.
Ein Rat an Patient:innen mit "frischer" Diagnose
Eine Frage, die vielleicht daran anknüpft. Wenn du einer frisch diagnostizierten Person, Frau oder Mann, am Anfang einen Rat mit auf den Weg geben könntest, wie sähe dieser aus?

Also ganz am Anfang, Krebsdiagnose bekommen und dann geht die Therapie los? Hm, richte dich auf eine Zeit ein, die anders, die schwer wird. Ich hab’s ja zu Hause auch erlebt. „Ich bin bei dir und wir stehen das gemeinsam durch.“ Ist ein wichtiger Satz von Angehörigen, für mich würde er nicht reichen. Schau, dass du weiterhin dein Leben so weiterlebst, wie du es jetzt lebst. Du musst dich und deinen Alltag nicht komplett verändern. Stell dich auf die Nebenwirkungen ein, versuche möglichst viel vorzubeugen. Informiere dich so gut, wie es geht: Was passiert mit dir jetzt, wie kannst du bestimmten Dingen entgegenwirken? Und wichtig: Ja, die Zeit wird schwer, aber es kommt auch wieder eine gute Zeit, vorausgesetzt natürlich, man übersteht das Ganze gut.
Widerstandskraft und psychische Stärke in der Krebstherapie
Braucht es psychische Stärke dafür? Oder entwickelt man die mit der Zeit?
Ich glaube, man braucht sie dafür. Wenn ich deine Frage ehrlich beantworten soll: Meine Erfahrung ist, wenn Patient:innen aus einer instabilen Situation kommen (ob familiär oder im Arbeitsleben o.a.) und sie strotzen insgesamt nicht vor Selbstbewusstsein und Stärke, die haben es viel schwerer. Wenn dann noch dazu kommt, dass sie sich selten bewegen oder Sport machen, sich ungesund ernähren, also ein eher „unstrukturiertes“ Leben führen – nennen wir’s mal so – wird es unsagbar schwer.
Denn dann fehlt gewissermaßen der Halt, das Vermögen und die Motivation zu lernen und sich an eine bestimmte Struktur halten zu müssen. Unter Therapie kann man eben nicht „heute so, morgen so“. Da ist es wichtig, auf sich und seinen Körper zu achten. Auch das Thema Sport: Es gibt Studien, die zeigen, dass es enorm förderlich ist, auch unter Therapie den Puls dann und wann etwas zu beanspruchen und dass diese Personen die Nebenwirkungen viel besser vertragen, als diejenigen, die nur auf dem Sofa hängen. Am Ende der Reha, wenn die Patient:innen drei Wochen Struktur hatten, gutes Essen, sportlichen Ausgleich usw., dann hören wir ganz oft „Das hat mich richtig stark gemacht.“ Ganz oft ist das dann der Punkt, wo vielen auch klar wird, dass sie was ändern wollen oder sollten, aktiver sein, vielleicht doch den Job wechseln und das Leben genießen, sich freuen, dass man die Therapie bekommen hat, dass man geheilt ist, Dankbarkeit empfinden.
Wenn jemand so gestärkt ist, dann ist das ja auch für euch eine tolle Rückmeldung. D.h. auch, dass ihr sehr gute Arbeit leistet.
Bad Oexen ist ein multiprofessionell aufgestelltes Team. Das sind schon unsere Erfahrungen, ja. Die mir nahestehende Person, die an Krebs erkrankt ist, war ja auch kürzlich hier zur Reha. Da hab ich nochmal eine ganz andere Perspektive erfahren. Und hab aber auch gemerkt, als Angehörige:r findet man nur schwer seinen Platz in dieser ganzen Krebserkrankung und allem, was da so passiert.
Die Rolle der Angehörigen
Das haben wir auch oft gehört im Austausch mit Angehörigen. Es wird als ganz heikles Gespann empfunden. Da herrscht viel Unsicherheit. Sie wissen nicht, was der geeignete Umgang damit ist. Sie wollen die Erkrankung nicht immer in den Mittelpunkt stellen, auf der anderen Seite wollen sie unterstützen, da sein, aber auch nicht zu viel geben, damit sich der/die Patient:in nicht „verliert“, sondern auch die Selbstständigkeit behält. Also insgesamt eine große Herausforderung.

Das hast du schön gesagt, ja. Aber ich muss auch betonen, wir sprechen so oft vom Idealfall. Ganz oft haben wir diese Idealbedingungen nicht und müssen schauen, wie wir mit dem zurechtkommen, was da ist. Deswegen ist eine Reha so enorm wichtig. Hier bekommen Betroffene alles kompakt auf einmal, drei Wochen geballt: Das ist ein knallhartes Auseinandersetzen mit sich selbst, mit dem eigenen Tun. Das ist soviel Zeit, die man hier gewinnt, so viel Professionalität, Austausch. Die Reha ist für mich oft ein Schlüssel, neben Selbsthilfegruppen.
Danke, liebe Birte. Ich gehe sehr beseelt aus diesem Gespräch raus. Wie immer, wenn wir uns austauschen. Ich freue mich, dass wir zueinander gefunden haben und zumindest auf dem Gebiet der Polyneuropathie Patient:innen gemeinsam unterstützen können.
Ich spreche auch so gern mit dir. Und ich finde, dass was wir gemacht haben, ist etwas ganz Wichtiges. Die Patient:innen interessiert es nicht, warum sie die Polyneuropathie haben. Sie wollen genau das: sich wiederfinden im Austausch.