November 2024
Idiopathische Polyneuropathie - wenn die Ursache unklar bleibt
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Für Polyneuropathien sind über 300 Auslöser und Ursachen bekannt. Dennoch lautet die Diagnose in jedem vierten Fall idiopathische Polyneuropathie – Ursache unklar. Was dies für Betroffene heißt, erfahren Sie in diesem Blogbeitrag.
Was versteht man unter idiopathischer Polyneuropathie?
Als idiopathisch werden Erkrankungen oder Beschwerden bezeichnet, die nicht nachweislich auf eine bestimmte Ursache zurückgeführt werden können. In diesem Fall ist der Auslöser der Nervenleiden unbekannt. Die Diagnose lautet dann Polyneuropathie unklarer Ätiologie. In vielen Fällen liegt ihnen ein mildes, nur langsam fortschreitendes klinisches Erscheinungsbild zugrunde. Symptome sind meist Wahrnehmungsstörungen, Taubheit, Kribbeln und leichte bis mittelstarke Schmerzen.
Grether, N.B., Wunderlich, G. & Lehmann, H.C. Diagnostik immunvermittelter Polyneuropathien. Deutsche Gesellschaft für Neurologie 3, 147–158 (2020)
Besonders häufig wird die Diagnose bei älteren Patienten gestellt. Warum die Ursachenklärung gerade bei dieser Gruppe oft ausbleibt, hat mehrere Gründe:
- Symptome wie Kribbeln, Taubheit, Schmerzen werden bei älteren Menschen zunächst mit allgemeinen Alterungserscheinungen in Verbindung gebracht. Die Polyneuropathie entwickelt sich damit versteckt weiter und der wichtige frühe Start der Diagnosearbeit verzögert sich – manchmal um Jahre. In der Folge verschlimmern oder verstetigen sich nicht nur die Symptome. Mögliche ursprüngliche Ursachen können mitunter auch nicht mehr nachvollzogen werden.
- Die Einschränkungen und Leiden sind bei älteren Menschen häufig komplexer. Die Ursachen können auf mehreren Ebenen liegen und in Kombination vorkommen – z.B. durch Rheuma, Arthrose, Nährstoffmängel, eine allgemeine Schwächung des Immun- und Nervensystems. Sind mehrere Ursachen möglich, wird auch die Therapie komplexer und das Herausfiltern erfolgreicher oder weniger wirksamer Behandlungsmaßnahmen ist erschwert.
Welche Auswirkungen hat eine unklare Ursache bei Polyneuropathien?
Die Diagnose und der Nachweis des Auslösers bzw. der Ursachen neuropathischer Beschwerden ist Grundlage der Therapie und damit der gezielten Linderung von Symptomen. Dabei gilt: Je früher die Diagnose klar ist, um so erfolgreicher sind Therapiemaßnahmen.
Die ursächliche Therapie hat nicht nur die Reduktion der Beschwerden im Blick, sondern ganz konkret auch die Ursachenbekämpfung (sofern möglich), sodass die Nervenschädigungen nicht weiter fortschreiten.
Zwei Beispiele:
Bei der diabetischen Neuropathie sind verschiedene Prozesse für den Abbau von Nervengewebe oder ihre Schädigung verantwortlich. Diese Prozesse hängen mit der veränderten Stoffwechsellage zusammen. Weiß man, dass der Diabetes die Ursache der Polyneuropathie ist, sieht die ursächliche Therapie vor allem die korrekte Zuckereinstellung, Ernährungsberatung und diverse Bewegungsprogramme vor. Mit Kontrolle des Diabetes wird auch die Polyneuropathie in ihrer Entwicklung gehemmt.
Bei toxischen Neuropathien, ausgelöst etwa durch Alkoholmissbrauch, konzentrieren sich Therapiemaßnahmen auf die Förderung von Abstinenz, z.B. durch Entgiftung, Entzug, Psychotherapie sowie den Ausgleich von Nährstoffdefiziten, die durch den Alkoholkonsum bedingt sind und die Nerven sekundär weiter schädigen, etwa B-Vitamine und gesunde Fettsäuren.
Besonders bezeichnend sind allerdings die psychischen Auswirkungen. Betroffene, bei denen die Ursache unklar bleibt, leiden oftmals sehr unter dem Fakt, keinen konkreten Startpunkt für eine kausale Therapie zu haben. Ist keine Ursache bekannt, fühlen sich viele Betroffene den Symptomen ausgeliefert. Im schlimmsten Fall stellen sich Hoffnungslosigkeit, Zukunftsängste und Depressionen ein. Eine gute psychotherapeutische und ggf. schmerztherapeutische Begleitung ist hier von großem Wert, wenn es darum geht, die Patienten zu befähigen, die Krankheit bewusst in ihrem Leben anzunehmen und damit umzugehen sowie Strategien zu finden, die die wechselnden Phasen der Symptomverschlimmerung und -verbesserung erleichtern können.
Was kann ich bei Polyneuropathie mit unklarer Ursache tun?
In einigen Fällen haben sich mittlerweile Tendenzen aufgezeigt, die letztlich doch zur Ursachenklärung beitragen können:
- Bei Anzeichen einer vererbten (hereditären) Polyneuropathie ist eine genetische Untersuchung vorzunehmen. Folgende Besonderheiten können für eine vererbte Polyneuropathie sprechen: positive Familienanamnese (Vorkommen von Nervenleiden bei engen Verwandten), Hohlfuß, Krallenzehen, junges Erkrankungsalter.
- Ein großer Anteil von Polyneuropathien mit unklarer Ursache ist auf eine Erweiterung der Wiederholungssequenz von Nukleotiden in einem Gen, dem RFC-1-Gen, zurückzuführen. Viele Fälle von Small-Fiber-Neuropathien (SFN) sind durch diese Mutation begründet. Das typische Krankheitsbild wird als chronische idiopathische axonale Polyneuropathie (CIAP) beschrieben. Laut den Leitlinien für Diagnostik und Therapie in der Neurologie (DGN 2024) ist diese diagnostische Einordnung wichtig, da sie „vor Übertherapie und Überdiagnostik schützen kann“.
- Genetisch bedingt kann auch die Amyloid-Polyneuropathie sein, die durch eine Mutation im Gen TTR hervorgerufen wird. Anzeichen dieser Ursache können eine Kardiomyopathie, gastrointestinale Beschwerden und ein bilaterales Karpaltunnelsyndrom sein.
Über diese Tendenzfälle hinaus gibt es eine Reihe an Faktoren, die die Ursachenklärung behindern und die ggf. auch Sie beeinflussen können:
- Mangelnde Erfahrungen der behandelnden Ärzte und Therapeuten. Oftmals stellen bereits Hausärzte, Diabetologen oder Onkologen die Diagnose oder zumindest die Verdachtsdiagnose. Lassen Sie sich diagnostisch sowie therapeuthisch in jedem Fall jedoch auch durch erfahrene Neurologen begleiten. Scheuen Sie sich nicht davor, den Erfahrungs- und Kompetenzstand der behandelnden Ärzte zu Polyneuropathien zu erfragen. Fühlen Sie sich unzureichend beraten, holen Sie sich weitere Fachmeinungen ein.
- Ungeeignete Diagnosemethoden. Dieser Punkt steht in Verbindung zur Expertise der behandelnden Ärzte. Ärzte sind Spezialisten auf ihrem Fachgebiet. Da die Polyneuropathie aber ein extrem heterogenes Erscheinungsbild hat und Ursachen auf so viele Ebenen liegen können, muss die Diagnostik innerhalb mehrerer Bereiche versuchen, Ursachen auszuschließen (Differenzialdiagnostik). Diese Ausschlussverfahren umfassen zum Beispiel internistische, orthopädische, onkologische u.a. Einschätzungen und Verfahren. Nicht immer werden all diese Spezialisten auch hinzugezogen oder die Terminfindung zieht sich über Monate hin. Die Expertise mit entsprechenden Tests kann bei der Diagnose jedoch entscheidend sein.
Ein Beispiel: Kommt ein Nährstoffmangel als Auslöser in Frage, ordnen viele Ärzte einen B12-Test an. Dieser beschränkt sich oft jedoch auf einen Serumstest (Blut), der für die Bestimmung der real zur Verfügung stehenden B12-Konzentration nicht aussagekräftig ist. Möglicherweise wird noch ein Holo-TC durchgeführt, der zwar bereits genauer das verwertbare B12 misst, aber nicht belegt, ob und wie unser Körper dieses tatsächlich verwertet. Ein B12-Mangel als Ursache der Polyneuropathie würde in dem Fall nicht belegt und nicht therapiert werden können. Ärzte mit Orthomolekularausbildung (Nährstoffkunde) oder Ernährungstherapeuten wären hier wichtige Ansprechpartner. Es lohnt sich also als Patient informiert zu sein und kritisch nachzufragen (s. die folgenden Punkte) - Fehlendes Wissen, mangelnde Aufklärung. Sie sind als Betroffene Experte Ihrer Gesundheit. Sie können am besten über Symptome, Krankengeschichte und Veränderungen berichten. Sie dürfen aber auch Wünsche äußern und Informationen oder therapeutische Maßnahmen einfordern. Voraussetzung: Sie haben sich ausreichend darüber informiert und das Selbstbewusstsein gewonnen, mit Ärzten und Therapeuten in den konstruktiven Austausch zu gehen. (👉Wir empfehlen Ihnen den Onlinekurs Polyneuropathie, der Sie mit umfassendem Wissen, Checklisten und Informationsmaterial (Videos, Vorträge usw.) versorgt, um Ihre Bedürfnisse kommunizieren und Ihren Diagnose- und Therapieerfolg positiv beeinflussen zu können.)
- Unzureichende Vorbereitung. Beim Diagnoseweg ist das Symptombild entscheidend. Häufigkeit, Intensität, Beobachtungen zur Veränderung von Beschwerden und die eigene Krankengeschichte (Vorerkrankungen, Risikofaktoren, Gewohnheiten, Medikamente usw.) ergeben in der Gesamtheit und Kombination bereits wesentliche Hinweise auf die Art und die Ursachen der Nervenschädigungen. Eine detaillierte Vorbereitung erleichtert es Ihnen und den behandelnden Ärzten und Therapeuten, die passenden Diagnosewege einzuleiten und in der Folge auch geeignete Therapiemaßnahmen mit Ihnen beschließen zu können. (👉Im Onlinekurs Polyneuropathie finden Sie auch dazu eine Sammlung an wichtigen Hinweisen, ein Symptomtagebuch und die Vorbereitung auf das Arztgespräch zum Download).
Es gibt also verschiedene Faktoren, die zu einer erfolgreichen Diagnose beitragen. Dennoch bleiben Polyneuropathie-Fälle weiterhin ohne konkrete Ursache. Gehören Sie dazu, ist es wichtig, die Lebensqualität – auch bei fortschreitenden Einschränkungen – zu erhalten und Teilhabe zu ermöglichen.
Neben der symptomatischen Therapie (durch Medikamente, Physiotherapie u.a.) sind konkrete Maßnahmen, die Ihnen dabei helfen können, folgende:
- Ergotherapie: zielt auf die Alltagsunterstützung körperlich eingeschränkter Patienten ab. Im Fokus stehen etwa Sensibilitätstrainings, Feinmotorikübungen, sodass Essen, Trinken, Ankleiden und bestimmte Bewegungsabläufe wieder leichter umzusetzen sind oder der Berufsalltag besser gelingt.
- Orthopädie: kann Mittel bereitstellen, die die Fortbewegung unterstützen, Koordination und Beweglichkeit erleichtern, z.B. Schuheinlagen, Schienen, Gehhilfen.
- Sport: Gezielte Übungen und Stimulation von Nerven und Muskeln ist bei Polyneuropathie immens wichtig und kann dazu beitragen, eine Symptomverschlimmerung einzudämmen. Sportliche Aktivitäten sollten bedacht und vorbereitet in den Alltag integriert werden. Holen Sie sich hierfür am besten Unterstützung von erfahrenen Therapeuten. Ein paar Impulse zu geeigneten Sportarten, der Intensität sowie ein paar Übungsvideos erhalten Sie ebenfalls im Onlinekurs Polyneuropathie.
Achten Sie vor allem auf Ihre psychische Gesundheit, darauf, einen positiven Umgang mit den Beschwerden zu fördern und allem voran nicht aufzugeben. Leichter gesagt, als getan? Das stimmt. Holen Sie sich deshalb auch hierfür professionelle Unterstützung. Ihre Ansprechpartner können Schmerztherapeuten, Psychotherapeuten oder Coaches sein.
Coachings und Psychotherapie verbessern zudem nachweislich Folgeerscheinungen wie Depressionen, Schlafstörungen, Ängste. Und sie können das Durchhaltevermögen der Betroffenen bei bestimmten Therapien sowie ihre Widerstandsfähigkeit stärken.
Empfohlen werden Polyneuropathie-Patienten vor allem Entspannungstrainings, wie Progressive Muskelrelaxation, Autogenes Training, Yoga, Meditation, Atemübungen. (👉Auch zu diesen Aspekten empfehlen wir den Onlinekurs Polyneuropathie. Sie erhalten darin konkrete Anleitungen zum Download und weiterführende Informationen.)
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Curro R, Salvalaggio A, Tozza S, Gemelli C, Dominik N, Galassi Deforie V, et al. RFC1 expansions are a common cause of idiopathic sensory neuropathy. Brain : a journal of neurology. 2021;144(5):1542-50.
Heuß D. et al., Diagnostik bei Polyneuropathien, S1-Leitlinie, 2024, in: Deutsche Gesellschaft für Neurologie (Hrsg.), Leitlinien für Diagnostik und Therapie in der Neurologie. Online: www.dgn.org/leitlinien (abgerufen am 30.10.2024)
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Visser NA, Notermans NC, Linssen RS, van den Berg LH, Vrancken AF. Incidence of polyneuropathy in Utrecht, the Netherlands. Neurology. 2015;84(3):259-64.
Zis P, Sarrigiannis PG, Rao DG et al (2016) Chronic idiopathic axonal polyneuropathy: a systematic review. J Neurol 263:1903–1910.
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